Unsere Dorfmitte im Wandel der Zeit

Maria-Agnes Pinn, Steffeln

Im Jahr 1900 befand sich die Dorfschule noch mitten im Dorf, direkt neben dem Tiefbach. Auf einem Foto von 1908 sieht man eine große Schulgemeinschaft. Die Schülerinnen und Schüler wurden damals von Herrn Lehrer Thömmes als einzigem Lehrer an der Dorfschule in einem Klassenraum von der ersten bis zur achten Klasse unterrichtet. An diesem Dorfmittelpunkt wurde in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein Jugendheim direkt neben der Schule gebaut.

Der Tiefbach plätscherte damals noch offen und frei durch das ganze Dorf. Im Sommer war es ein toller Wasserspaß für die Kinder. Die angrenzenden Bewohner nutzten das Wasser zum Kühlen von Nahrungsmitteln aller Art. In den Wintermonaten endete so manche Schlittenfahrt vom Offerberg hinunter durch die Hoheley über die Kreuzung zur

Bohnengasse unten am Bach. Wenn die jungen Burschen vom Schalk getrieben wurden, dann steuerten sie den Schlitten auch schon

Schulklasse von 1908 mit Herrn Lehrer Thömmes (links) und Herrn Pfarrer Mühlens (rechts) - Foto-Archiv Pinn

Spielplatz in der Dorfmitte 2020 -© Johannes Pinn

mal absichtlich ins Wasser hinein, und bevor die Teilnehmer zu Eiszapfen erstarrten, ging es schnell nach Hause.

Im Jahr 1924 zwängte man den Tiefbach in einen unterirdischen Kanal und baute die Bachstraße über dem Bachlauf. Ein „Totenzettel" aus dem Jahr 1924 erinnert an dieses Ereignis. Im Dorf freute man sich über diese Errungenschaft und feierte ein großes Bachfest. 1938 erblickte ich in der direkten Nachbarschaft zur Dorfmitte das Licht der Welt und fühlte mich sehr wohl und rundum geborgen. Dann begann der zweite Weltkrieg und viele junge Männer aus unserer Nachbarschaft wurden zum Kriegsdienst eingezogen. Glücklicherweise musste mein Vater nicht mehr in den Krieg, weil er mit einer chronischen Herzerkrankung aus dem ersten Weltkrieg nach Hause gekommen war. Die alte Dorfschule war inzwischen zu klein geworden, und so wurde am Ortsrand eine neue, größere Schule gebaut. In der alten Schule wurde im Dritten Reich ein Kindergarten eingerichtet. Mein Vater legte keinen

großen Wert darauf, dass ich im Kindergarten vom Zeitgeist der damaligen Zeit beeinflusst wurde und den Hitlergruß lernte; aus diesem Grund musste ich nicht oft in den Kindergarten gehen. So verbrachte ich mein Vorschulalter im landwirtschaftlichen Betrieb meiner Eltern und war viel mit ihnen froh und munter in Feld und Flur unterwegs. Derweil tobte der schreckliche Krieg und auch in unserer Nachbarschaft häuften sich die traurigen Nachrichten. In „Fescher" war Peter gefallen und Alois wurde vermisst. In „Böffjes" sind Felix und Nikolaus gefallen, in „Eltges" fiel Nikla. Gegen Ende des Krieges erreichte das Kriegsgeschehen auch unser Dorf und Veronika Krautschneider und ihr vierjähriger Sohn August wurden von einem Granaten-beschuss tödlich getroffen. 1945 beendeten die Amerikaner den Krieg in unserem Dorf. Durch die Besatzung wurden viele Häuser beschlagnahmt und viele Familien mussten Zuflucht bei Verwandten suchen. In unserem Haus lebten wir zusammen mit sieben anderen Familien aus unserer Verwandtschaft. Nach Ende des Krieges gehörte RheinlandPfalz und damit auch Steffeln zur französischen Besatzungszone. Als Kriegsentschädigung transportierten die Franzosen nicht nur viel Holz aus unseren Wäldern ab, sie beschlagnahmten auch Vieh in den Ställen und mancher Landwirt musste seine beste Kuh

Sperrschild anlässlich der Corona-Beschränkungen 2020 - © Johannes Pinn

Der alten Steigerturm - Foto-Archiv Pinn

hergeben. Im Jugendheim und im Kindergarten in der Dorfmitte fanden Flüchtlinge eine vorübergehende Unterkunft. Nach dem Krieg normalisierte sich das Leben schnell. In „Fescher" überlebten ein Sohn und zwei Töchter, in „Böffjes" vier und in „Eltges" sechs Kinder den Krieg. Bei den jungen Leuten kehrte die Freude am Leben schnell zurück, viele konnten sehr gut singen und trafen sich oft abends bei „Böffjes" im Garten um gemeinsam Volkslieder und bekannte Schlager zu singen. Den schönen Gesang konnte ich aus meinem Schlafzimmer hören und so lernte ich schnell die Lieder mitzusingen. Sonntags wurde nach der Christenlehre in der großen Stube von „Böffjes" mit einem „Quetscheböggel" zum Tanz aufgespielt. Meine Freundinnen und ich beobachteten die Jugendlichen von draußen durch die Stubenfenster. Musik und Tanz haben uns so in den Bann gezogen, dass auch wir die Tänze schnell lernten, an denen wir uns bis heute erfreuen. Glücklicherweise konnten die Flüchtlingsfamilien bald aus ihren Notquartieren in eigene Wohnungen umziehen. Der alte Kindergarten

wurde zu einem Aufenthalts- und Geräteraum für die Freiwillige Feuerwehr umgebaut. Den Aufenthaltsraum nutzten auch andere Vereine. Direkt nach dem Krieg wurde die Feuerwehr noch von einem Hornisten, der mit dem Fahrrad durchs Dorf fuhr, alarmiert. An den Trompetensignalen konnte man direkt erkennen, ob es sich um eine Übung oder um höchsten Alarm handelt. Bevor eine große Sirene auf dem Dach des Feuerwehrgerätehauses installiert wurde, diente eine tragbare Handsirene der Alarmierung. Diese tragbare Sirene, die von Hand gedreht wird, kommt heute noch häufig bei Polterabenden und ähnlichen Festen zum Einsatz. In den fünfziger Jahren wurde das alte Jugendheim zu einer großen Gemeinschaftsgefrieranlage umgebaut und direkt daneben ein großes Schlachthaus eingerichtet. Beide Einrichtungen waren für das bäuerlich geprägte Dorf sehr wertvoll. Beinahe jeder Haushalt schlachtete eigenes Vieh und in dem Gefrierfach der Familie im öffentlichen Gefrierhaus wurde das eigene Fleisch und andere Lebensmittel aus der eigenen Produktion aufbewahrt.

Der alte Steigerturm am Gebäude der Feuerwehr musste später leider abgerissen werden um Platz für das neue Feuerwehrauto zu

schaffen.

In unserer direkten Nachbarschaft, in „Böffjes", lebte Tante Christin, sie kannte sich mit der Gartenarbeit sehr gut aus und bestellte ihren Garten nach dem Mondkalender. Von ihr lernte ich als junge Frau viele Tipps und Tricks, und wenn ich mich heute an meinem Garten erfreue, dann denke ich noch oft an sie. In den Jahren 1968/69 wurde das alte „Böffjes"-Anwesen abgerissen und die Gemeinde erwarb das Grundstück um hier in der Dorfmitte einen Kinderspielplatz zu errichten. Mit dem Abriss des alten Hauses ging ein Stück Heimat verloren. Aber wenn ich heute neben dem Spielplatz in unserem Garten arbeite, dann freut es mich, wenn sich dort viele Kinder aufhalten. Ihr Lachen, ihr Spiel, ihre Phantasie und das Nachahmen der Erwachsenen genieße ich

in vollen Zügen. So bleibe ich ständig auf dem Laufenden und lerne gleichzeitig die aktuelle Sprache der Kinder, ob Deutsch, Englisch oder „Denglisch". In unserem Eifeler Platt verstehen wir unter „Chillen" das Schälen von Erbsen oder Bohnen. Heute sind „Chillen" und „Abhängen" Bezeichnungen für Faulenzen. Ist man von etwas begeistert, dann ist das mega-cool oder einfach nur geil.

Im Frühjahr 2020 musste der Spielplatz wegen der Corona-Krise gesperrt werden, ein Einschnitt und eine Trostlosigkeit, wie ich es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr erlebt habe. Wie froh war ich, als der Spielplatz endlich wieder geöffnet wurde und Kinderlachen, Frohsinn, Spaß und Spiel zurückkehrten - das ist für mich Wellness pur. Möge unser Herrgott den Wissenschaftlern bald einen Weg aus dieser Krise zeigen, damit der Platz nicht noch einmal geschlossen werden muss.

Die Feuerwehr vor dem neuen Gerätehaus - © Feuerwehr Steffeln