Hirschbrunft im Eifelwald

Tamara Retterath, Lirstal

„Erleben Sie eine
Hirschbrunft
live.
Führung durch Förster.
Nächsten Donnerstag 20 Uhr
für Touristen.
Treffpunkt an der Schutzhütte",

stand auf dem Plakat am Schwarzen Brett der Tourismus-Informationsstelle am örtlichen Rathaus. Mein Vater und ich machten zu dieser Zeit gerade Urlaub in der schönen Eifel, als wir diese in fetten Buchstaben gedruckte Ankündigung entdeckten. „Wäre das nicht interessant?" fragte mich Papa nach dem Lesen des Plakats. An seinem Tonfall merkte ich sofort, dass er Feuer und Flamme war. Und so meldeten wir uns kurzerhand direkt in der Tourismus-Information an. Die Zeit bis Donnerstag konnte Papa kaum abwarten. Auch ich war neugierig auf ein grandioses Tiererlebnis. Bei solch einer vielversprechenden Führung hatten wir beide noch nie mitgemacht.

Als Amateurfotografin witterte ich tolle Fotoaufnahmen der röhrenden Hirsche. „Denkst du, ich soll die Kamera mit dem Teleobjektiv mitnehmen? Oder glaubst du, es wird zu dunkel zum Fotografieren sein?", fragte ich meinen Vater.

„Auf jeden Fall wird das Röhren in der Dämmerung stattfinden", antwortete er mir achselzuckend, „das kann ich dir nicht sagen, ob es sich da lohnt die Kamera mitzunehmen." „Auch dann gibt es manchmal schöne Aufnahmen", erklärte ich ihm. „Das Blöde ist, dass das Objektiv so schwer ist und wir von dem Treffpunkt aus noch ein gutes Stück wandern werden. Nachher schleppe ich noch alles umsonst mit", überlegte ich weiter. Der Treffpunkt, an dem die Wanderung losgehen sollte, lag am Waldrand eines kleinen Örtchens, das man nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln, sondern nur mit dem Auto

erreichen konnte. Deshalb beschloss ich, die Kamera zwar im Auto mitzunehmen, aber dort zu lassen. Bei Gelegenheit konnte ich dann dort noch kurzfristig umentscheiden und den Fotoapparat immer noch zur Wanderung mitnehmen.

Als wir zum vereinbarten Treffpunkt an die Schutzhütte fuhren, fing es leicht zu nieseln an. Aber das konnte uns und ein paar andere Familien nicht abschrecken. Mit schützender Regenkleidung waren alle gut gewappnet und warteten auf den Förster, der pünktlich erschien. Zum Glück hörte der Regen in dem Moment auf. Endlich konnte es losgehen. Der nette Förster begrüßte die gesamte Gruppe und machte erst einmal eine theoretische Einleitung. Nachdem er den Eintrittspreis für die Waldführung kassiert hatte, erzählte er über den Wald im Allgemeinen und die Hirsche im Besonderen. Am Anfang seiner Rede war es noch verhältnismäßig hell, doch während er so redete und redete, dämmerte es immer mehr. Am Ende seines Vortrags sagte er, dass wir noch auf einen zweiten Förster warten müssten, der jeden Augenblick kommen müsste. Währenddessen unterhielt sich die Gruppe mit dem Waidmann in lockerer Atmosphäre. Endlich kam der zweite Förster aus dem Wald und gab sein Okay, damit wir losmarschieren konnten. Ich hatte eigentlich vorgehabt, die Förster zu fragen, ob man auch Fotos von den röhrenden Hirschen schießen könnte, aber inzwischen war es stockdunkel, so dass sich meine Frage erübrigt hatte. Im Gänsemarsch ging die Gruppe dicht hintereinander in den Wald hinein. Wir waren alle von den Förstern darauf aufmerksam gemacht worden, uns ruhig zu verhalten und nicht mehr miteinander zu sprechen. Jeder Einzelne setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, um so leise wie möglich zu sein und keine Tiere zu verscheuchen. Der Wind fuhr durch die Bäume, so dass der Wald geheimnisvoll rauschte. Schauerlich

hörte sich der Schrei eines Waldkauzes von der Ferne an.

Als wir am Ziel waren, setzte der Förster immer je 2 - 3 Personen an einer Stelle jeweils in 10 Meter Entfernung ab, so dass nicht die gesamte Gruppe zusammengeballt war. „Mit Ihnen beiden würde ich gerne noch weiter gehen", sagte der Förster zu Papa und ich musste schmunzeln, da mein Vater wahrscheinlich aus der Gesprächsrunde bei der Einführung positiv aufgefallen war. Papas Lebenstraum wäre der Beruf des Försters gewesen, was ihm aber in den Nachkriegsjahren trotz bester schulischer Leistungen nicht ermöglicht werden konnte. Seine rare Freizeit widmete er jedenfalls dem Aufenthalt in freier Natur und dem Lesen von Jagdliteratur und Fachzeitschriften. Ich war echt stolz, dass wir auf einen besonderen Platz durften. „Noch näher können wir leider nicht an den Brunftplatz herangehen, da wir sonst die Hirsche vergrämen", erklärte der Förster. „In einer halben Stunde hole ich Sie hier wieder ab." Damit ging der Förster wieder zurück.

Die Brunftschreie der Hirsche waren in unmittelbarer Nähe zu hören. Schade, dass es so stockdunkel war, dass man die Hand nicht vor Augen sehen konnte, denn der Anblick eines Hirsches während der Brunftgeräusche wäre die Krönung gewesen. Aber so war es natürlich auch ein atemberaubendes Naturerlebnis! Man konnte ja wirklich nicht zu viel verlangen. Aus naher und etwas fernerer Umgebung vernahm man die Brunftrufe. Dann hörten wir das Aufeinanderschlagen der Geweihstangen beim Kampf. Die passenden Hirsche dazu stellte ich mir eben in meiner Phantasie vor. Papa und ich lauschten gespannt, denn so schnell würde uns ein solches Erlebnis nicht mehr beschert werden!

Die halbe Stunde verflog und bald holte der Förster uns und alle anderen ab und wir gingen wieder leise im Gänsemarsch zum Ausgangspunkt zurück. Am ursprünglichen Treffpunkt zurückgekehrt, kam ein Unwetter auf und es fing wieder an zu regnen. Der Wind wurde zunehmend stärker, so dass das eigentlich geplante Ausklingen des Abends in gemütlicher Runde bei einem Lagerfeuer ausfiel. Die Schutzhütte war mit großen, nicht ver-

schließbaren Fenstern sehr offen gebaut und eher nur ein kleiner Regenschutz. Die Gruppe verabschiedete sich - noch begeistert von dem eben Erlebten - und stob auseinander. Jeder fuhr schnell mit dem Wagen heim. Auch wir fuhren den asphaltierten Feldweg Richtung Straße als ich beim Blick auf den Landgasthof an der Einmündung auf die Idee kam: „Lass uns doch hier einkehren und einen warmen Tee trinken." Und so machten wir Halt und betraten die rustikale Gaststube. Als wir es uns in einer Ecke des Lokals gemütlich gemacht hatten und Papa einen Grog, ich meinen dampfenden Tee in Händen hielt, kamen weitere Gäste lachend in die Gaststätte gepoltert.

Die Personen setzten sich in guter Stimmung an einen großen Tisch in der Mitte des Lokals. „Ha-ha-ha! Diese Touris sind uns wirklich auf den Leim gegangen! Ha-ha-ha!", lachte einer der Männer.

Bei dem Wort "Touris" wurden wir aufmerksam und hörten etwas genauer hin. Wir waren hier in der Eifel ja selbst Touristen! Da wurde sich auch schon weiter unterhalten: „Genial, dass das alles so wie am Schnürchen funktioniert hat!"

Ein anderer erwähnte: „Klasse habt ihr das gemacht! Diese Brunftschreie - wirklich täuschend echt!"

Meine Augen und Ohren wurden immer größer!

„Ja, Karl, gelernt ist halt gelernt", gab einer an, während der andere einwarf: „Rudi ist nicht umsonst Meister der Tierstimmenkategorie Hirsche." Der Nächste meinte anerkennend: „Ihr anderen ward aber auch Spitze! Wie habt ihr das Aufeinanderschlagen der Hirschgeweihe hinbekommen?" „Wir haben einfach ein paar Stöcke gegeneinander geschlagen", antwortete einer lachend. „Ich hab schon gedacht, es wird nie dunkel. Dabei hab' ich geredet und geredet und es schien nicht recht dunkel werden zu wollen. Schließlich habe ich die Zeit doch noch überbrückt", gab ein weiterer Mann freudig zu. Dann lachten sie noch mal alle herzhaft. In ihrer Begeisterung hatten sie gar nicht auf eventuelle Zuhörer geachtet. „Das hab ich mir schon fast gleich gedacht, aber ich wollte ja nix sagen", flüsterte mir

mein Vater schmunzelnd ins Ohr, „ist doch klar, dass die Hirsche bei einer so großen Menschengruppe in ein anderes Gebiet ziehen. Da können die Leute noch so vorsichtig und leise sein. Die Hirsche wittern so viele Menschen." Ich schüttelte erstaunt den Kopf, denn darauf wäre ich im Leben nie gekommen. Aber Papa flüsterte mir schon eine Erklärung zu: „So wie ich das Fiepen eines Rehkitzes nachmachen kann, so können andere Leute eben andere Tierstimmen nachahmen, also auch die Brunftschreie der Hirsche. Es gibt sogar richtige Meisterschaften für solche Tierstimmenimitationen."

Mein anfänglicher Schock wandelte sich zunehmend in Amüsement. Wir hatten einen netten Abend erlebt und waren der Wahrheit eben durch Zufall auf die Spur gekommen. „Klar", bestätigte ich nun nickend, „die ganzen Leute wären auch enttäuscht gewesen, wenn sie alle soweit mit dem Auto angereist wären und der Förster hätte gesagt: Tut mir leid, die Hirsche sind weggezogen. Heute gibt's keine Brunftschreie." Jetzt unterdrückte ich selbst ein leises Kichern.

In ihrer gelösten heiteren Stimmung bemerkten die Förster mit ihren Helfern uns beide gar nicht, als wir den Landgasthof verließen. Draußen musste ich laut über mich selber lachen: „Und ich wollte auch noch meine schwere Kamera mit dem kiloschweren Teleobjektiv mitschleppen, um die Hirsche zu fotografieren!!!"

Und Papa alberte weiter: „Wenn du eine Nachtsichtkamera gehabt hättest, dann hättest du einen „SCHÖNEN HIRSCH" auf dem Bild gehabt!!!"

Röhrender Hirsch bei der Hirschbrunft Zeichnungsnachweis: Tamara Retterath