Altsteinzeitliche Funde vom Oberlauf der Kyll

Peter May, Koblenz

Dass sich am Oberlauf der Kyll im Nordwesten des Landkreises Vulkaneifel schon in der mittleren Altsteinzeit regelmäßig und an vielen verschiedenen Stellen Menschen aufgehalten haben, ist eine wissenschaftlich längst bewiesene, aber im Allgemeinen noch wenig bekannte Tatsache. Daher sollen nachfolgend einige charakteristische Steinwerkzeuge aus dieser Zeit von der oberen Kyll vorgestellt werden, die trotz ihrer vordergründigen Unscheinbarkeit eindrucksvolle Zeugen der unvorstellbar langen Besiedlungsgeschichte der Vulkaneifel sind. Ihre besondere Bedeutung liegt darin, dass Hinterlassenschaften des steinzeitlichen Menschen aus organischen Materialien wie Holz, Knochen, Geweih, Leder und ähnlichem längst vergangen sind und nur die dauerhaften Steinartefakte die einzigen Zeugnisse sind, die von unseren ältesten Vorfahren künden können. Als früheste Spuren menschlicher Existenz in unserem Raum überhaupt verdienen sie unsere besondere Aufmerksamkeit!

Im Mittelpunkt dieser Betrachtung stehen steinerne Artefakte aus dem Mittelpaläolithikum, welches auf etwa 300.000 bis 40.000 Jahre vor heute datiert wird. Noch ältere Fundstücke aus dem Altpaläolithikum (ca. 1 Mio. bis 300.000 Jahre vor heute, Zeit des homo erectus) können in der Eifel durchaus vermutet werden, sind aber mangels datierbarer Grabungsfunde nicht sicher zu belegen. Im nachfolgenden Jungpaläolithikum (ca. 35.000 bis 10.000 Jahre vor heute), welches in das Kältemaximum der letzten Eiszeit fällt, scheinen höhere Mit-telgebirgsregionen wie die zentrale Vulkanei-fel nur sporadisch begangen oder ganz gemieden worden zu sein; nur wenige Fundstücke aus dieser Epoche belegen hier die Anwesenheit des anatomisch modernen Menschen (homo sapiens sapiens), wie zum Beispiel ein

sogenannter Nasenkratzer aus Quarz (Abb. 1), der eine typische Werkzeugform der jungpa-läolithische Stufe des Aurignacien ist oder ein Stichel aus dem mittleren bis späten Jungpalä-olithikum (Gravettien oder Magdalenien, Abb. 2). Wiederum zahlreich sind dagegen Fundstücke und Fundorte aus der letzten Epoche der Jäger und Sammler, dem Mesolithikum (mittlere Steinzeit, ca. 8.000 bis 4.500 v. Chr.) in der Eifel vertreten, insbesondere auch an der oberen Kyll.

Die im Mittelpaläolithikum in unserem Raum lebende Menschenform, welche auch als Hersteller der zu besprechenden Artefakte anzunehmen ist, ist der heute ausgestorbene Neandertaler-Mensch (homo neanderthalensis). Zu seinen bekannteren Fundorten in der Eifel zählt die Buchenloch-Höhle bei Gerolstein, die schon 1879 von dem Landschafts- und Historienmaler Eugen Bracht ausgegraben worden ist. Einer der ganz seltenen menschlichen Überreste des Neandertalers aus der Eifel ist ein Schädeldach, welches der Koblenzer Urgeschichtler Dr. Dr. Axel von Berg im Jahr 1997 auf dem Wannen-Vulkan bei Ochtendung in der Osteifel entdeckt hat. Das Verschwinden des Neandertalers mit seiner speziellen Werkzeugtechnologie und das Aufkommen einer neuen Menschenart (homo sapiens sapiens) mit neuen Techniken, Geräteformen und Kulturerscheinungen wie Höhlenmalerei, Kunstwerken und Musikinstrumenten markieren das Ende des Mittelpaläolithikums. Die zeitlichkulturelle Zuweisung der hier gezeigten, oberflächlich aufgelesenen Fundstücke in das Mittelpaläolithikum ist sowohl anhand der zeittypischen Steinbearbeitungstechnik (Levallois-Konzept und diskoider Kernabbau), als auch durch typologisch vergleichbare, datierte Artefakte aus Ausgrabungen ohne weiteres möglich. Ein weiterer Anhaltspunkt

für ein hohes Alter der Stücke bietet das äußere Erscheinungsbild der steinernen Artefakte. Oftmals sind die Spaltflächen durch Eisenhy-droxid-Imprägnation bräunlich verfärbt und/ oder weisen eine seidige Glanzpatina auf; beides resultiert aus einer längeren Einlagerung im Boden. Das Alter und die Authentizität der hier vorgelegten mittelpaläolithischen Steinartefakte wurde durch Archäologen des Landesmuseums Trier und des Instituts für Ur-und Frühgeschichte an der Universität Köln einwandfrei bestätigt. Zur Herstellung der steinernen Werkzeuge und Waffen benutzte der mittelpaläolithische Mensch Rohstoffe, die er in seiner unmittelbaren Umgebung vorfand. Da in der Vulkan-eifel keine qualitativ hochwertigen Gesteine vorkommen wie z. B. der gut spaltbare Kreidefeuerstein aus dem Maasgebiet, musste sich der Steinschläger mit weniger gut zu bearbeitenden Geröllen aus örtlichen Flüssen und Bächen begnügen. In der Regel waren dies zähe, klüftige, unregelmäßig brechende, aber scharfkantig spaltende Quarzgerölle. Regelmäßig, wenn auch deutlich seltener, wurde zudem der qualitativ minderwertige Eifeler Lokalfeuerstein zur Artefakt-Herstellung benutzt, wie ein jüngst aufgelesener, formvollendeter Faustkeil aus der Gemarkung Gerolstein-Roth beweist. Dieses ursprünglich schwarz-graue Material entstand ebenfalls in den Kreideformationen des belgischen Maasgebietes, wurde dann aber erodiert und mit den Eifelflüssen nach Süden und Westen abtransportiert. Heute kann es als zerscherbte, stark korrodierte braun-gelbe Ge-rölle in den Flussschottern von Ahr und Kyll aufgelesen werden.

Alle gezeigten Fundstücke wurden bei gezielten Oberflächenprospektionen durch den Verfasser im Zeitraum von 1994 bis 2015 aufgelesen. Bei den Fundstellen handelt es sich deutlich erkennbar um begrenzte Konzentrationen von Steinartefakten auf der Ackeroberfläche, die ehemalige Lagerplätze des urzeitlichen Menschen anzeigen. Vergleichbare oberflächliche Fundstellen aus dem regionalen Mittelpaläolithikum wurden in der jüngeren Vergangenheit von Erich Lipinksi bei Rockeskyll und von Lothar Giels bei Hillesheim erforscht und publiziert. Eine reprä-

sentative Auswahl von mittelpaläolithischen Quarzartefakten aus der Vulkaneifel kann zudem im Naturkundemuseum Gerolstein und im Rheinischen Landesmuseum in Trier besichtigt werden. Die technischen Zeichnungen der Steinartefakte wurden von Frau M. A. Ingrid Koch gefertigt, wofür Ihr ebenso gedankt werden soll wie dem Archäologischen Verein Gerolstein mit seinem Vorsitzenden Dr. Hartwig Löhr, der die Zeichenarbeiten finanziert hat. Die auf den mittelpaläolithischen Fundplätzen an der oberen Kyll am häufigsten gefundenen Artefakte sind einfache Abschläge, die direkt zum Schneiden, Schälen, Schaben oder Bohren benutzt werden konnten oder als Abfall liegen blieben (Abb. 3 und 4). Weitaus seltener finden sich dagegen regelmäßig geformte, lang-schmale Klingen (Abb. 5), die zu ihrer Herstellung ein gut spaltbares Rohmaterial in größeren Formaten erfordern, wie z. B. Feuerstein aus den nordwesteuropäischen Kreideformationen. Möglicherweise sind derartige Stücke woanders hergestellt und von mobilen Jägergruppen hierher mitgebracht worden. Neben den Abschlägen finden sich regelmäßig die übrig gebliebenen Kernsteine. Relativ häufig und zeittypisch für die mittlere Altsteinzeit sind diskoide (scheibenförmige) Kernsteine, die einen rundlich-ovalen Umriss, eine flache bis regelmäßig aufgewölbte („schildförmige") Abbaufläche bzw. Oberseite sowie eine gewölbte Unterseite mit der natürlichen Geröllhaut aufweisen (Abb. 6 bis 9). Offenbar nutzte hierbei der Steinschläger die natürliche Wölbung der Gerölle aus, um auf effiziente Weise Abschläge zu gewinnen. Aber auch polyedrische (vielflächige) Kernsteine (Abb. 10), unregelmäßige Kerne (Abb. 11) und massive, bis kindskopfgroße Gerölle mit umlaufenden Abschlag-Negativen (Abb. 12) kommen vor. Die häufigste Werkzeugform im Fundgebiet sind die sogenannten Schaber, was als weiteres Charakteristikum des Mittelpaläolithikums gilt. Hierfür wurden in einem weiteren Arbeitsschritt die Kanten von Abschlägen mittels kleinerer Abhübe so zugerichtet („retuschiert"), dass eine stabile, scharfe Kante etwa zum Abschaben von Fellen oder zum Entrinden von Ästen entstand. Auch auf den Fundplätzen an der Kyll konnten Schaber in verschiedenen Aus-

prägungen wiederholt aufgefunden werden (Abb. 13 bis 18). Neben der vergleichsweise einfachen Abschlagtechnik ist an der oberen Kyll auch eine komplexere Abbaumethode, die sogenannte Levallois-Technik belegt: hierbei wurde ein Kernstein (Abb. 19) derart präpariert, dass mit einem einzigen, gezielten Schlag ein Artefakt mit umlaufenden, messerscharfen Kanten entstand. Auch solche „Levallois-Abschläge" konnten hier aufgelesen werden (Abb. 20 und 21). Die Levallois-Technik wurde ausschließlich im Mittelpaläolithikum angewendet und ist daher ein sicherer Beleg für das Alter der so hergestellten Artefakte. Einfache Geröllgeräte, die eine spitze oder breite, scharfe Schneidekante aufweisen (sogenannte Chopper, Cleaver und Chopping Tools) und die in technologischer Hinsicht als Vorläufer der beidseitig bearbeiteten Faustkeile aufgefasst werden können, kommen seltener vor, wobei ihre klare Abgrenzung zu den Kernsteinen manchmal problematisch ist. Sehr selten sind in der zentralen Vulkaneifel vollständig ausgeformte Faustkeile gefunden (und wohl auch hergestellt) worden, was vermutlich dem Fehlen von geeignetem Rohmaterial geschuldet ist. Ein Exemplar aus Quarz ist von Rockeskyll, „Kuhweide" bekannt, ein weiteres aus Eifeler Lokalfeuerstein von Gerolstein-Roth; von Hillesheim, „Auf Krohrech / Faule Felder" stammen einige Bruchstücke von Faustkeilen oder anderen zweiseitig bearbeiteten Geräten. Insgesamt erscheint das Typenspektrum der mittelpaläolithischen Fundstellen am Oberlauf der Kyll relativ gleichförmig und im Vergleich

zu benachbarten Regionen eher ärmlich. Dies könnte, wie schon erwähnt, eine Folge der qualitativ minderwertigen Rohmaterial-Vorkommen in der Eifel sein.

In der Zusammenschau sprechen die in den letzten Jahren an der Oberen Kyll und im Gerolsteiner Raum entdeckten zahlreichen Fundstücke und Fundstellen aber eine deutliche Sprache: auch im Eiszeitalter gab es in der zentralen Eifel offensichtlich immer wieder günstige Klimaperioden, die eine reiche Flora und Fauna hervor brachten. Und immer wieder suchte auch der eiszeitliche Mensch unseren Raum auf, um hier zu jagen und zu sammeln. Seine unvergänglichen Hinterlassenschaften liegen uns noch heute, nach vielen zehn- und hunderttausend Jahren, zu Füßen. Um es noch einmal in aller Deutlichkeit zu sagen: die Besiedlungsgeschichte der Eifel fängt nicht erst mit Kelten, Germanen und Römern an!

Literatur
Bosinski, G.: Paläolithikum und Mesolithikum im Rheinland; in: Urgeschichte im Rheinland. Köln, 2006 Giels, L.: Die mittelpaläolithischen Silexartefakte vom Oberflä-chenfundplatz Hillesheim, Kreis Daun. Magisterarbeit an der Uni Köln, 2000
Löhr, H., Lipinski, E., Koch, I. und May, P.: Steinzeit im Gerolsteiner Raum. Herausgeber: Naturkundemuseum Gerolstein, 1990 Lipinski, E.: Eine mittelpaläolithische Quarzindustrie von Rockeskyll, Verbandsgemeinde Gerolstein, Kr. Daun/Eifel; in: Archäologisches Korrespondenzblatt 16, 1986, S. 223-234 May, P.: Der mesolithische Oberflächenfundplatz „Auf dem Hähnchen bei Auel (Lkr. Vulkaneifel, Rheinalnd-Pfalz; in: Archäologisches Korrespondenzblatt 38, 2008, S. 157-173 May, P. (in Vorbereitung): Ein Faustkeil aus Eifeler Lokalfeuerstein von Gerolstein-Roth, Landkreis Vulkaneifel

Abb. 1: Nasenkratzer aus Quarz von Oberbettingen, „Auf dem Heidchen"; Länge: 4,6 cm

Abb. 2: Stichel aus Feuerstein von Oberbettingen, „Im großen Forst"; Länge: 6,0 cm

Abb. 3: Abschlag aus Eifeler Lokalfeuerstein von Oberbettingen, „In der Helt"; Länge: 6,1 cm

Abb. 4: Abschlag aus Quarz von Oberbettingen, „Auf dem Rauen-acker"; Länge: 4,3 cm

Abb. 5: Klingenfragment aus Feuerstein von Lissendorf, „Auf dem Suhr"; Länge: 4,3 cm

Abb. 6: Diskoider Kernstein aus Quarz von Oberbettingen, „Auf dem Rauenacker"; Länge: 8,7 cm

Abb. 7: Diskoider Kernstein aus Quarz von Oberbettingen, „Auf dem Rauenacker"; Länge: 7,4 cm

Abb. 8: Diskoider Kernstein aus Quarz von Oberbettingen, „Auf dem Rauenacker"; Länge: 6,8 cm

Abb. 9: Diskoider Kernstein aus Quarz von Gerolstein-Roth, „In der Rauhenwies"; Länge: 7,4 cm

Abb. 10: Polyedrischer Kernstein aus Quarz von Lissendorf, „Dennert"; Länge: 8,1 cm

Abb. 11: Kernstein aus Feuerstein von Dohm-Lammersdorf, „Auf Walsdorferweg"; L.: 6,5 cm

Abb. 12: Kernstein aus Quarz von Lissendorf, „Auf dem Suhr"; Länge: 15,3 cm

Abb. 13: Schaber aus Quarz von Oberbettingen, „Auf dem Rauena-cker"; Länge: 6,7 cm

Abb. 14: Schaber aus Quarz von Oberbettingen, „Auf dem Heidchen"; Länge: 6,3 cm

Abb. 15: Schaber aus Quarz von Oberbettingen, „Auf dem Rauena-cker"; Länge: 6,5 cm

Abb. 16: Schaber aus Quarz von Oberbettingen, „Auf dem Rauena-cker"; Länge: 9,6 cm

Abb. 17: Schaber aus Quarz von Gerolstein-Roth, „In der Rauhenwies"; Länge: 6,3 cm

Abb. 18: Schaber aus Quarz von Gerolstein-Roth, „In der Rauhenwies"; Länge: 4,7 cm

Abb. 19: Levallois-Kern aus Quarz von Oberbettingen, „Auf dem Heidchen"; Länge: 7,6 cm

Abb. 20: Levallois-Abschlag aus Feuerstein von Dohm-Lammersdorf, „Auf der krummen Heid"; Länge: 5,5 cm

Abb. 21: Levallois-Abschlag aus Quarz von Oberbettingen, „Auf dem Heidchen"; L.: 4,3 cm