Keiner mehr da oder Vom Fortgehen

Ute Bales, Freiburg

Irgendwann kommt ihr heim und dann ist keiner mehr da, sagte mein Vater. Ich empfand fast so etwas wie Mitleid mit ihm, dem die Zeit gestundet schien, anders als mir, die ich das Leben noch vor mir hatte. Seine Gedanken berührten mich nicht. Sein Irgend-

wann lag in einem entfernten Dunst, weit hinter dem Mond und allen Planeten. Hier würde keiner so schnell verschwinden. Meine Großeltern hatten schon hier gelebt und die Eltern der Großeltern, auch deren Eltern. Alle, die hier lebten, schöpften aus dem,

was die anderen hinterlassen hatten. Wie aus einem tiefen Brunnen. Alles würde so bleiben: Die alten Frauen mit den vertrockneten,

verschafften Händen, den vom kalten Wind aufgeplatzten Äderchen auf den faltigen Wangen, den Kittelschürzen und den ewigen Geschichten von schlechten Zeiten, vom Hunger, vom Krieg und von Onkel Franz, der in Frankreich geblieben war, und von all jenen, von denen nur vergilbte Fotos übrig waren.

Bis Sankt Nimmerlein würden die Frauen in aller Frühe ihren Männern Brote schmieren für die Arbeit und Kaffee in Thermoskannen füllen, die Männer in Blaumännern die Häuser verlassen, Onkel Heinz seinen Bulldog

anwerfen. Zeitungshanni würde ausharren, nur noch krummer und schiefer werden von dem schweren Tornister, in dem er, fast noch zur Nachtzeit, die Trierer Zeitung von Haus zu Haus trug. Sogar dieser schwarze Tornister, der gegen Mittag, nach getaner Arbeit, schlapp und leer an ihm herunterhing und an dem er sich trotzdem festhielt, wenn er, schwankend vom Schnaps, den ihm die Bauersfrauen einschenkten, nach Hause strebte, würde die Zeit überdauern. So wie die gesungenen Fürbitten von Berni, unserem Küster, die meine Jugend begleiteten wie Beschwörungsformeln: Jesus, am Kreuz gestorben, hinabgestiegen zu den Toten, auferstanden in Herrlichkeit, du Kraft für die Sterbenden,

Woellersberg bei Lissingen

du Tür zum Leben und einzige Hoffnung, in alle Ewigkeit, Amen. Toni, die Läuterin, würde weiterläuten, außer vor Ostern, wenn es nichts zu läuten gab. Martha würde bis in alle Ewigkeit in ihrem Gasthaus Fremdenzimmer vermieten und im Fenster unter dem Schild „Bitte ein Bit" Sansiverien züchten, Käddi weiterhin das Schöller-Depot betreuen, wo es Nucki Nuss gab. Auch die Zementmischer würden fortbestehen, die Holzstapel, die Hühner mit ihrem kotverklebten Gefieder, die Ginsterhügel, die Fliegen in den tränenverklebten Augen der Kühe, die Nester der Schwalben, aus Lehmkügelchen geformt, unter der Regenrinne an der Hausfassade unseres Hauses. Auf ewig der Duft nach gemähtem Gras im Sommer, die Wärmflaschen meiner Mutter im Winter. Ich stellte mir mein Dorf vor wie einen großen Körper, dem manchmal Glieder abfallen und wieder nachwachsen. Natürlich würden Menschen wegziehen, natürlich blieben die Unglücke, der Krebs und die Infarkte, die Wetterfühligkeit, die Migränen. Auch eine Epidemie könnte kommen, eine Bombe einschlagen und alles wegfegen. Natürlich würden Menschen sterben. Aber es würden welche nachkommen, die alten Häuser besiedeln, und wie aus einem Brunnen schöpfen, was andere hinterlassen hatten. Kyll und Oos würden bleiben, auch der Dreesbach und was der Gewässer noch mehr sind, wenn man die vielen Quellen hinzu zählt. Die Jahreszeiten würden kommen und gehen und mit ihnen die Feste, die Tänze, dummdideldumm, dummdideldumm - Fastnacht, Schützenfest, St. Martin. Die Straßen würden immer da sein, Kirche und Schule, die Häuser, die Gärten, natürlich unser Berg mit seiner Lava, den Sanden, den Quarziten und Grauwacken, den Schlehenhecken, die in der Gegend überall vorkommen und dem duftenden Thymian. Natürlich würde auch mein Vater weiterhin sein Akkordeon spielen, mein Vater, der, so lustig er auch sein konnte, voller Angst vor dem Leben war. „Schwarzbraun ist die Hasel-nuss, schwarzbraun bin auch ich, ja bin auch ich, schwarzbraun muss mein Mädel sein, gerade so wie ich, falleri juwi juwi juwi i ha ha ha, falleri juwi juwi juwi i ha ha ha ... "

Mein Vater müsste sogar bleiben. Denn was wäre ohne ihn? Wer sonst würde bei uns nach dem Dach sehen, die Reifen wechseln, die Heizung reparieren und den tropfenden Wasserhahn wieder zur Ruhe bringen. Wer sonst würde meine Schwester und mich vor der Welt schützen?

Irgendwann, sagte mein Vater, irgendwann kommt ihr heim und dann ist keiner mehr da. Dann ist vielleicht jemand anders da, erstickte ich seinen Tiefsinn, denn die Welt ist doch weit und groß und die Menschen sind beweglich. Ich sagte auch, dass der Mensch deshalb nicht an dem Ort bleiben könne, an dem er geboren wurde, weil er sonst dort sterben müsse. Zuhaus sterben die Leut. Anderswo würde es mehr geben, Besseres vielleicht. Er solle sich nur die Schwalben ansehen, die jedes Jahr von Gott weiß woher kamen und mehr gesehen hätten von der Welt als alle im Dorf zusammen. Mein Vater mochte die Schwalben, schraubte ihnen Kotbretter unter die Nester, betrachtete sie als Glücksbringer und Frühlingsboten, aber zu meinem Vergleich zog er die Brauen zusammen, meinte, dass das Reisen schließlich in der Natur von Zugvögeln stecke, dass aber auch sie eines Tages nicht mehr kommen würden, weil der Dreck, den sie machten, die schönen neuen Hausfassaden verschandeln und man sie deshalb fortjagen würde. Es war ihm im Gedächtnis geblieben, wie Fritz, der Nachbar, Schwalbennester mit dem Besenstiel abgeschlagen hatte. Die Schwalben kümmerten mich wenig. Ich mochte es, wenn sie den Himmel stürmten und den Sommer auf ihren Flügeln trugen. Aber Schwalben gab es genug, überall, und Menschen auch. Ich hatte gelesen, dass sich die Menschheit bis zum Jahr 2000 verdoppeln würde. Sieben Milliarden gäbe es dann. Damals ahnte ich nicht, dass die Leute, die dann im Dorf wohnen würden, Bäche und Berg nicht mehr kennen könnten. Längst klingt der Wind auf unserem Berg nicht mehr wie früher, der Thymian duftet nicht mehr, die Vögel sind weniger geworden. Ich bin auch nicht mehr die, die in den Dreesbach spuckt, zusieht, wie der weiße Speichel da-hintreibt, an einem Stein hängenbleibt und weiterschaukelt.